Erpenbecks „Heimsuchung“: Figuren im Spiegel der Geschichte
von Dietholf Zerweck | 16.11.2025, 10:14 Uhr
Aus Jenny Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ schafft die Regisseurin Aurelina Bücher mit einfachen Mitteln im Stuttgarter Theater der Altstadt eine berührende Szenenfolge in einer schauspielerisch starken Aufführung.
Stuttgart. Ein Haus am Märkischen Meer steht zum Verkauf, durch die Zwischenräume der Fassade tritt eine Maklerin mit Kundschaft auf die Bühne. Es ist 1991, Nachwendezeit, das Haus in der Ex-DDR hat eine lange Geschichte, mit welcher die deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck in ihrem 2008 erschienen Roman „Heimsuchung“ auch eigene Kindheitserinnerungen verarbeitet hat. Erpenbeck, die mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin, deren Großeltern die Nazizeit als Kommunisten im Moskauer Exil überlebten, deren Eltern in der DDR zum Establishment gehörten, erzählt die Vergangenheit dieses Hauses und die Schicksale seiner Bewohner und Nachbarn über mehrere Generationen hinweg im Kontext der deutschen Geschichte in einer komplex strukturierten, sprachlich verdichteten Form. Dass der Roman in mehreren Bundesländern, darunter auch in Baden-Württemberg, beim Abitur 2026 Prüfungsstoff sein wird, mag ein Grund dafür sein, dass „Heimsuchung“ gerade auch öfters als Theaterstück aufgeführt wird – obwohl das Buch nicht unbedingt als bühnentauglich erscheint.
Auch im Stuttgarter Theater der Altstadt wird „Heimsuchung“ nun gespielt – die andere Deutsch-Abi-Lektüre, Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ steht im Alten Schauspielhaus auf der Bühne – und die Inszenierung von Aurelina Bücher, mit 18 Rollen für vier Schauspielerinnen und Schauspieler, ist immerhin sehenswert. Der Anfang trägt noch comicartige Züge: Der bärtige Moritz Brendel mit Fransenperücke als Maklerin, die Kundschaft wie aus einem Gangsterfilm, doch Szene um Szene werden die Figuren greifbarer in ihrem historischen Kontext und ihren Beziehungen zueinander. Caroline Sessler als Frau des Architekten, im Roman als „Seiltänzerin“ apostrophiert, spielt ihre Rolle als angeheiratete Stenotypistin, „die weiß, dass ein Abenteuer eigentlich immer nur darin besteht, sich dem auszusetzen, was einem fremd ist“, genauso überzeugend wie später die Schriftstellerin, die mit ihrer Schreibmaschine aus der Fremde heimkehrt in eine Deutsche Demokratische Republik, in der nicht alles so gut ist, wie sie es sich erträumt hatte. Moritz Brendels Architekt, der seiner Frau ein Traumhaus am See baut und seinem Nachbarn, dem jüdischen Tuchfabrikanten, dessen Besitz zur Hälfte des Werts abkauft, damit seinen Eltern noch die Flucht vor den Nazis gelänge, ist der kaltschnäuzige Opportunist, der nach Kriegsende mit den Russen Geschäfte macht und dann doch in den Westen geht: „Wären die Scholle, das Haus und der See nicht seine Heimat, hätte es ihn niemals in der Ostzone gehalten“, kommentiert die Erzählerin im Roman.
Zusammenhänge fehlen im Stück
Sebastian Schäfer wechselt in Büchers Inszenierung so virtuos die Rollen wie seine von María Martínez Peña erdachten Kostüme. Vom Großbauern in grünen Boxershorts, dem das Grundstück am See von alters her gehört, und dessen Starrsinn seine jüngste Tochter Klara in den Tod treibt – alles, was dazu an Zusammenhängen im Roman erzählt wird, fehlt im Stück – verwandelt er sich zu Ludwig, dem Tuchfabrikanten, der sein Glück mit Anna am See nur kurze Zeit genießen kann, bevor sie 1936 aus dem judenfeindlichen Deutschland nach Südafrika auswandern. Der fröhlichen Szene mit Schäfer und Esrah Ugurlu, in der Erpenbeck die Schlüsselwörter „Heim“ wie Heimat und „Heil“ wie Hitler in den beiden ungleichen Nachbarn konfrontiert, folgt nun das Grauen von Krieg und Zerstörung. Das Schicksal von Doris Kaplan, der Nichte des Tuchfabrikanten, wird mit Ugurlus erschütterndem Bericht vom Leben im Warschauer Ghetto und Sterben in Auschwitz als Video-Aussage gegenwärtig, die Vergewaltigung der Frau des Architekten durch einen russischen Soldaten (Brendel) am Ende des Kriegs mit Stimmenchor angedeutet. Und die Opfer-Geschichte der DDR kommt mit einem verurteilten Republikflüchtling ins Spiel, der hier als „Unterpächter“ (Schäfer) seine Heimat findet. Gegen Schluss der eineinhalbstündigen Aufführung zerfasert das Stück etwas, doch Esrah Ugurlu als Gärtnerin, die als Hüterin des Hauses alle Zeiten gleichmütig miterlebt, ist zeitlos präsent und spricht vor dem Abbruch mit ihren Kollegen das Schlusswort: „Weil alles, was sie da abschließt, so weit innen liegt, und der Teil der Welt, in den sie zurückweicht, so weit außen.“
Info: „Heimsuchung“ wird bis 7. Dezember noch mehrfach gezeigt, weitere Vorstellungen gibt es im Januar.